Die juristische Auslegung von Gesetzestexten und dem Koran

Die juristische Auslegung von Gesetzestexten und dem Koran

 

 

In der Rechtswissenschaft gibt es einen Bereich, der als juristische Methodenlehre bezeichnet wird. Recht ist nicht immer gleich Recht und Gesetzestexte sind nicht immer eindeutig und klar zu verstehen. Im Umkehrschluss heißt das, dass Gesetzestexte in manchen Fällen auch mehrdeutig verstanden werden können. Deshalb bedürfen Gesetze und Paragrafen in solchen Fällen der Auslegung. Um dabei zu einem gerechten und vernünftigen Ergebnis zu kommen, haben sich in der Rechtswissenschaft bestimmte Auslegungsmethoden entwickelt, die bei der Behandlung von Gesetzestexten mit mehrfacher Deutungsmöglichkeit Anwendung finden.

Die Auslegung eines Gesetzes heißt, seinen Sinn zu erforschen und auf den Sinn der konkreten Norm abzustellen, wobei der Gesetzeswortlaut maßgebend ist.

Außer der Auslegung von Gesetzestexten kennt die Rechtswissenschaft auch den Begriff der Analogie. D.h. einige Gesetzestexte können auch in analoger Anwendung zur Geltung kommen; sie sind mithin analogiefähig. Selbstverständlich gilt die Analogie nicht für jeden Gesetzestext, sondern findet in der Praxis nur selten und in Ausnahmefällen ihre Anwendung.

Um einen nicht eindeutigen Gesetzestext richtig zu bewerten, bedient sich der Jurist deshalb der Auslegungsmethoden. Es gibt in der Jurisprudenz vier Arten von Auslegungsmethoden, die für das Ergebnis der Auslegung jeweils eine unterschiedliche Gewichtigkeit haben. Maßgebend sind hierbei der Wortsinn, der Bedeutungszusammenhang, die Entstehungsgeschichte und der Zweck der Norm.

Vergleicht man diese Auslegungsmethoden mit der Systematik der islamischen Rechtswissenschaft bzw. in der Koranauslegungsmethodik, wird man feststellen, dass hier eine gewisse Parallelität herrscht und sich diese vier Kanone auch auf die Koranauslegung übertragen lassen. Vorliegend wird ein Zusammenhang zwischen unserer heutigen, in der deutschen Rechtswissenschaft existierenden Auslegungsmethode und der Methodik der Koranauslegung hergestellt. Dabei wird zuerst die juristische Auslegungsmethode vor – bzw. dargestellt und anschließend Bezug auf den Koran genommen und anhand von Beispielen erläutert.

  1. Historische Auslegung

Zunächst kennt die Methodenlehre die historische Auslegung. Für die Ermittlung eines Gesetzeszwecks ist vor allem die Entstehungsgeschichte von Bedeutung. Dabei stellt man sich die Frage, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen ein Gesetz erlassen wurde. Weiterhin wird der Beweggrund des Gesetzgebers ermittelt. Bei der historischen Auslegung geht es folglich um den Entstehungsgrund eines Gesetzes und um den Willen des Gesetzgebers zu Zeit der Entstehung.

Im Koran gibt es parallel hierzu die berühmten “Offenbarungsgründe“ (Asbab-un Nusul). Bei den Offenbarungsgründen geht man der Frage nach, wann und unter welchen Umständen Allah einen Vers offenbart hat. Dem liegt häufig ein prägendes und aufklärungsbedürftiges Ereignis zu Grunde. Zu denken wäre etwa an Aischa und die berühmte Verleumdung (ifq). Ebenso gilt diese Methode für die Verse, die explizit als Kriegsvorschriften offenbart wurden und die unter bestimmten Voraussetzungen für die damaligen Umstände galten.

  1. Systematische Auslegung

 

Des Weiteren gibt es die systematische Auslegung. Dabei schaut man, in welchem Zusammenhang bzw. Bedeutungszusammenhang und Kontext ein Paragraf erwähnt wird. Der einzelne Rechtssatz muss bei dieser Methode im Gesetzeszusammenhang der Rechtsordnung verstanden werden. Man stellt sich somit die Frage, in welchem Buch und in welchem Abschnitt des Gesetzes der betroffene Paragraf auftaucht, welcher Paragraf vor welchem steht und welcher wiederum diesem folgt. Diese Methode dient dazu, einen einzelnen Paragrafen nicht isoliert und völlig aus dem Kontext gelöst zu betrachten und auszuwerten, sondern ihn in seinem Gesamtzusammenhang systematisch zu deuten.

Zwei Beispiele aus dem Koran lassen sich dazu sehr anschaulich darstellen. Zum einen kann man die systematische Auslegung für den dritten Vers der vierten Sure (Nisa – die Frauen) anwenden. Dieser Vers besagt sinngemäß: „Und wenn ihr befürchtet, nicht gerecht hinsichtlich der Waisen zu handeln, dann heiratet, was euch an Frauen gut scheint, zwei, drei oder vier. Wenn ihr aber befürchtet, nicht gerecht zu handeln, dann (nur) eine oder was eure rechte Hand besitzt. Das ist eher geeignet, dass ihr nicht ungerecht seid.“

Der Satz (Vers) wird mit den Waisen und dessen Gerechtbehandlung eingeleitet. Dann erst wird Bezug zu den Frauen und der Heirat genommen. Die Polygamie (Mehrehe) kommt somit im Zusammenhang mit den Waisen vor, was Rückschlüsse darauf führen lässt, dass die Polygamie lediglich einen Ausnahmetatbestand darstellt und die Monogamie den Regelfall bildet.

Ein anderer wichtiger Vers, der insbesondere häufig und gerne unzureichend in den Medien Umlauf findet, ist der 30 f. Vers in dem 24. Kapitel (En – Nur). Dort heißt es zunächst: „Sag zu den gläubigen Männern, sie sollen ihre Blicke senken und ihren Scham hüten. Das ist lauterer für sie. Gewiss, Allah ist kundig dessen, was sie machen:“ Erst im Folgevers spricht Allah die Frauen (bzw. den Propheten) an und sagt: „Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihren Scham hüten, …“ In dieser systematischen Betrachtungsweise darf nicht außer Acht gelassen werden, dass primär die Männer von Allah aufgefordert werden, ihre Blicke nach unten zu senken. Erst im Anschluss, also sekundär richtet sich Allahs Aufforderung an die Frauen.

  1. Sprachlich – grammatikalische Auslegung

 

Als dritte Auslegungsmethode gibt es die sprachlich – grammatikalische Auslegung. Ausgangspunkt ist hierbei die Wortbedeutung. Diese Methode beinhaltet zum einen die Wortwahl, aber auch den gesamten Satzbau. Hierbei geht es also um die Frage, welche Wörter in konkreten Fällen verwendet wurden, warum der Gesetzgeber gerade ein bestimmtes Wort in einem bestimmten Satzbau gewählt und konstruiert hat.

Parallel zu dieser Auslegungsmethode kann man aus dem Koran folgende Beispiele geben: Im Koran verwendet Allah für das Wort Angst oder Furcht verschiedene Bezeichnungen. Es kommt meistens das Wort “Chauwf“ vor. Der speziellere Begriff für die Gottesfurcht ist hingegen “Taqwa“ Ebenso gibt es für das Wort “Mensch“ diverse Bezeichnungen. “Insan“, “Bescher“, “Mar“ “Nefs“ und “Ruh“, die an unterschiedlichen Stellen und in verschiedenen Kontexten vorkommen. Weiterhin ist das Verb “Evhayna“ auffallend, das zunächst als „Wir offenbarten“ übersetzt werden kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Allah das gleiche Verb nicht nur im Bezug auf die Propheten gebraucht, sondern auch bezüglich der Mutter von Musa (Moses) in dem Kapitel Taha (20:38) und der Biene in dem Kapitel An – Nahl (16:68). Deshalb hat dieses Verb eine tiefer greifende Bedeutung und muss als „eingeben“ übersetzt werden. Das Verb kann somit in seiner Bedeutung nicht nur auf die göttliche Offenbarung bezüglich der Propheten eingeschränkt werden und wird viel weiter erfasst. Ein anderes Beispiel ist das Verb „erschaffen“, wofür es im Arabischen verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten gibt und die an unterschiedlichen Stellen vorkommen (chalaqa, fatara, bedea etc.).

  1. Teleologische Auslegung

 

Als letzte und für das Auslegungsergebnis grundsätzlich entscheidende Methode kennt die Rechtswissenschaft die teleologische Auslegungsmethode (griech. telos= Ziel). Sie ist die wichtigste Methode und hat das größte Gewicht. Mit der teleologischen Auslegung ist die Erforschung des Sinn und Zwecks (ratio leges) einer Vorschrift gemeint. Hierbei stellt man sich die Frage, warum ein bestimmtes Gesetz oder ein Paragraf zustande gekommen ist. Welcher Sinn und Zweck durch diese bestimmte Norm verfolgt und beabsichtigt wurde. Ebenso bedarf es bei der Auslegung von Korantexten der Anwendung des Verstandes, also der Ratio des vernünftig denkenden Menschen. Bei dieser Auslegungsmethode muss man stets im Hinterkopf behalten, was Allah mit einem bestimmten Vers gemeint, bezweckt und beabsichtigt haben könnte.

Unter Berücksichtigung dieser vier Auslegungsmethoden und – möglichkeiten wird man grundsätzlich immer zu einem gesunden und gerechten Ergebnis kommen können.

Selma Öztürk

oeztuerk.s@gmx.de

Publiziert in der Ayasofya 34 2011

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