Historische Entwicklung von islamischen Vereinen

Historische Entwicklung von islamischen Vereinen

Die seit den siebziger Jahren eingewanderten muslimischen Arbeitsmigranten kamen in die von Kirchen geprägte säkulare Gesellschaft Deutschlands (Aries, 2000, S.131). Um die Ausübung religiöser Rituale und Traditionen zu gewährleisten, die auch ein Teil der Verbindung zur zurückgelassenen Heimat war und einen Halt in der fremden Umgebung gab, fanden sich religiös motivierte Migranten zusammen, um dafür Räumlichkeiten zu schaffen. Nach anfänglicher Orientierungslosigkeit gründeten sie in Selbsthilfe Moscheevereine, durch die sie eine religiöse Grundversorgung sicherstellten. Als bedeutendste Institution zur Verrichtung religiöser Pflichten wurden so genannte Hinterhofmoscheen errichtet. Die bestehenden gesellschaftlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen sowie finanzielle Beschränkungen ließen den Migranten keine andere Wahl, Moscheen häufig in ehemaligen Fabriken oder anderen gewerblich genutzten Gebäuden unterzubringen (Böttiger, 2005, S.75).

Eine Moschee hat in erster Linie die Funktion Stätte der Einkehr und des Gebetes zu sein. In der Diaspora ist ein Funktionswandel dieses Gotteshauses zu beobachten (Jonker / Kappham, 1998, S.14), hier wurde es mehr als ein Ort der Andacht. Die Moschee wurde zu einem Ort der Begegnung und des Austausches. Migranten sehnten im Moscheebesuch ihren beständigen und unterstützenden Kontext herbei, der es ihnen ermöglichte ihre Identität unter ihresgleichen zu bewahren und zu bestärken. Sie waren aufgrund der kulturellen Differenz zur Aufnahmegesellschaft auf die stabilisierende Qualität kulturell-religiöser Muster wie die der Moschee zur Aufrechterhaltung ihres Selbstwertgefühls angewiesen. In diesem Spannungsverhältnis übernahm die religiöse Gemeinde eine wichtige Rolle zur Stabilisierung der Identität sowie zur Vermittlung von Werten und Normen (Jonker / Kappham, 1998, S.14).

Die Erkenntnis, dass der Aufenthalt in Deutschland länger als geplant andauern würde, führte dahingehend, dass die provisorischen Gebetsräume sukzessiv zu islamischen Gotteshäusern umgestaltet wurden. Der Prozess der Gemeindebildungen steht in enger Verbindung mit den 1973 einsetzenden Familienzusammenführungen (Kücükhüseyin, 2002, S.13). Nun mussten neue Strukturen geschaffen werden, die eine generationsübergreifende Kontinuität hinsichtlich der religiösen und kulturellen Erziehung gewährleisten konnten. Denn für die Vermittlung des religiösen Basiswissens an ihre Kinder fehlte den Arbeitereltern sowohl der notwendige Bildungshintergrund als auch die Zeit. Ebenso war die Moschee ein kostengünstiges Betreuungsangebot für ihre Kinder. Anfangs wurde der Unterricht für die Arbeiterkinder in den Moscheen von Vereinsmitgliedern erteilt, die häufig gerade noch in der Lage waren den Koran einigermaßen sicher zu lesen (Aries, 2000, S.131) und wage Kenntnisse über den Gebetsritus besaßen.

Außerdem verfügten sie kaum über pädagogische und didaktische Fähigkeiten (vgl. Marschke, 2003). Das war dahingehend zurückzuführen, dass die ersten islamischen Institute 1959 in der Türkei gegründet worden waren. Zu spät für die ersten angereisten Gastarbeiter aus der Türkei. Der Volksislam, den sie mitbrachten, war nicht mehr als ein rudimentäres religiöses Grundwissen. Ihre Grenzen wurden ihnen selbst sehr schnell bewusst.

In den 80er Jahren bildeten sich regional und später überregionale religiöse Vereinigungen in privatrechtlicher Organisationsform. Sie übernahmen zunächst in immer zunehmendem Maße die religiöse Betreuung der türkischen Muslime (Kücükhüseyin, 2002, S.14). Diese Vereinigungen versuchten durch die Übernahme der bestehenden Gebetsräume und der Schaffung von neuen Gebetsstätten dem Bedürfnis nach religiöser Orientierung entgegenzukommen und den Auswirkungen der diesbezüglichen Defizite aus den siebziger Jahren entgegenzuwirken (Schmalz-Jacobsen / Hansen, 1995, S.228). Manche Vereine orientierten sich entweder an der traditionellen Weitergabe des islamischen Wissens oder aber an der individuellen Form der Religion (Loccumer Protokolle, 1999, S.23). In den islamisch geprägten Ländern ist und war eine derartige Vereinsbildung weitgehend unbekannt (Spuler-Stegemann, 1998, S.101). Alle türkisch-islamischen Organisationen der siebziger und achtziger Jahre zeichneten sich durch eine ausschließliche Orientierung an der Türkei und den dortigen politischen Verhältnissen aus. Dass heißt, dass zum einen der Schutz der türkisch-islamischen Identität, zum anderen aber die gezielte Einflussnahme zugunsten ihrer Mutterorganisationen im Heimatland im Vordergrund der Aktivitäten stand ((Kücükhüseyin, 2002, S.15).

Um kurz die entscheidenden gegründeten Vereine zu nennen:
DML – Deutsche Muslim Liga 1952/54
VIKZ – Verband Islamischer Kulturzentren 1973
IGMG – Islamische Gemeinschaft Milli Görü? 1976
DITIB – Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion 1984
ATIB – Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa 1988

Zwei der in Deutschland etablierten Spitzenverbände:
Islamrat – bundesweite Koordinierungsinstanz und gemeinsames Beschlussorgan islamischer Religionsgemeinschaften (Islamrat Selbstdarstellung) 1986
ZMD – Zentralrat der Muslime 1994

Die islamischen Gemeinden vergrößerten ihr Repertoire an Angeboten für die muslimischen Migranten. Neben der Vertretung ihrer Interessen und Dienstleistungen kultureller, religiöser oder sozialer Art waren sie Anlaufstelle für Diverses. Darunter fiel und fällt auch heute noch das Angebot des Koranunterrichtes für Kinder und die Unterweisungen in islamischen, theologischen Grundlagenwissen.

Inzwischen liegt ein besonderer Schwerpunkt der Spitzenverbände und anderer Dachorganisationen, die sich als Handlungsforum ihrer Mitglieder verstehen, in ihrem Engagement für die „Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache als ordentliches Lehrfach an den öffentlichen Schulen“ (Islamrat Selbstdarstellung). Ansonsten stellen in Deutschland die türkisch-islamischen Gemeinden mit ihren Korankursen für türkische Familien fast das einzige Angebot dar, ihre Kinder im islamischen Glauben unterweisen zu lassen. Den Untersuchungen von Tosun (1993) in NRW zufolge sahen sich nur 27,3 % der befragten türkischen Eltern in der Lage, ihr Kind auch selber islamisch zu unterweisen, rund 70% sprechen sich selbst diese Qualifikation ab. In Deutschland lebt eine große Zahl der Muslime, die sich zu einer traditionalistischen Grundauffassung bekennen. Diese Haltung findet ihren Ausdruck in der unreflektierten Islam-Verbundenheit dieser Menschen (Brandt, 1981-1984, S.103).

Jedoch spielt der Islam nicht nur für muslimische Migranten eine gewichtige Rolle, sondern für jedes Individuum, für das der Islam aufgrund eigener Entscheidung oder der von Erziehungsberechtigten ein nicht unwesentliches Merkmal ihrer Identität darstellt. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob nicht die Schulen als staatliche Bildungseinrichtung diesem Phänomen Rechnung zu tragen haben (Brandt, 1981-1984, S.103), da v.a. die religiöse Unterweisung muslimischer Kinder unterschiedlichster Ethnien –deutschstämmige muslimische Kinder eingeschlossen- Gegenstand der Sache ist.

Tuba Isik
calikusu16@hotmail.com

Literatur:

• Aries, A. (2000): Warum islamischer Religionsunterricht in Deutschland? In: Weth, R. (2000): Bekenntnis zu dem einen Gott? Christen und Muslime zwischen Mission und Dialog. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft
• Böttiger, H. (2005): Migranten in Deutschland. Analysen und Perspektiven. Göttingen: Sierke Verlag
• Brandt, H.-J. (1981-1984): Begegnung mit Türken, Begegnung mit dem Islam. Ein Arbeitsbuch Bd. IV/84. Hamburg: E. B.-Verlag
• Islamrat Selbtdarstellung: www.islamrat.de
• Jonker, G./ Kapphan, A. (1998): Moscheen und islamisches Leben in Berlin. Berlin: Ausländerbeauftragte des Senats
• Kücükhüseyin, S. (2002): Türkische politische Organisationen in Deutschland. Broschürenreihe der Konrad-Adenauer-Stiftung: Zukunftsforum Politik, Nr. 45. Sankt Augustin
• Loccumer Protokolle 19/22 (1999): Islam in Deutschland. Eine Religion sucht ihre Einbürgerung. Loccum
• Marschke, B. (2003): Religionsunterricht und interkulturelle Erziehung: Situation und Perspektiven für Kinder und Jugendliche aus türkischen Migrantenfamilien. Diss., Freie Universität, Berlin
• Schmalz-Jacobsen, C./Hansen, G. (1995): Ethnische Minderheiten in der BRD. Ein Lexikon. München: C.H. Beck.
• Spuler-Stegemann, U. (1998): Muslime in Deutschland. Nebeneinander oder Miteinander. Freiburg i.Br.: Herder

Publiziert in: Ayasofya, Nr.32, 2010