Von einer Staats- in eine Vertrauenskrise?

Von einer Staats- in eine Vertrauenskrise?

 

Eine repräsentative Umfrage des Instituts für Migrations- und Politikforschung der Hacettepe-Universität Ankara sowie des Berliner Meinungsforschungsinstituts SEK-POL/Data4U zeigt, dass die Morde der antitürkischen Nazi-Terroristen das Vertrauen türkischstämmiger Einwanderer in den deutschen Staat offenbar stark erschüttert hat. Für die Studie, die Anfang Januar 2012 veröffentlicht wurde, wurden 1058 repräsentativ ausgewählte und in Deutschland lebende türkische Einwanderer ab 15 Jahren befragt. Mehr als die Hälfte, 55 Prozent der Befragten, glauben, dass die Rechtsterroristen vom deutschen Staat beschützt oder gar gefördert wurden. Rund ein Drittel von ihnen ist sogar überzeugt, dass es „extreme“ staatliche Unterstützung für die Nazis gab. Etwa 21 Prozent glauben dagegen nicht an diese Unterstützung. Das Vertrauen in den Staatsapparat scheinen viele Befragte verloren zu haben. Lediglich 35 Prozent meinen, die Morde könnten noch aufgeklärt werden. Die Beileidsbekundungen der Politiker werden ebenfalls nicht ernst genommen. Die öffentliche Anteilnahme wird von 70 Prozent nicht als echte Reue gewertet.

Einige Wochen nach dieser Studie wurde die Öffentlichkeit durch folgende Schlagzeile der Internetplattform „Welt-Online“ regelrecht geschockt: „BKA ließ Ermittlungsdaten des Neonazi-Trios löschen“. Die Internetredakteure der großen Tageszeitung „Welt“ schreiben, dass „sensible Ermittlungsdaten“ sowie die Handydaten des 32-jährigen Terror-Helfers, André E., auf Wunsch[!] des Bundeskriminalamtes (BKA) gelöscht wurden. Zuvor hätten Spezialisten der Bundespolizei die Daten eigens in aufwendigen Verfahren entschlüsselt. André E. wurde Ende November 2011 durch Spezialkräfte der GSG 9 in Brandenburg festgenommen und sitzt im Moment in Haft. Bei ihm handelt es sich um den mutmaßlichen Macher und Regisseur der Hass-DVD der Nazitruppe. In der DVD werden die Terroropfer sowie Türken in Deutschland auf übelste Weise verhöhnt. Der unsensible Umgang von Teilen staatlicher Behörden mit „sensiblen Ermittlungsdaten“ lässt erahnen, wieso die zu Beginn zitierte repräsentative Umfrage der Hacettepe-Universität zu den genannten Ergebnissen kommt.

Nach Informationen der „Bild am Sonntag“, die ebenso wie die „Welt“ zu der Aktiengesellschaft „Axel Springer“ zählt, wurde auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) durch diesen „unsensiblen Vorgang“ der Behörden aufgeschreckt. Sein Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche habe nach Angaben eines Ministeriumssprechers eine „umfassende Erklärung durch die Amtsleitung des BKA angefordert“. Auch der eloquente und uns besonders durch seine Anwesenheit in Talkshowsendungen bekannte Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU), sagte: „Hier handelt es sich um einen gravierenden Vorgang, der unverzüglich aufgeklärt werden muss. Es darf nicht einmal der Verdacht entstehen, dass etwas verheimlicht werden sollte.“ Bosbach bringt es auf den Punkt. Es steht die Frage im Raum, warum es dem BKA in dem Fall so wichtig war, dass die Bundespolizei nach der Entschlüsselung keinerlei Zugriff mehr auf die Handy-Daten haben sollte? Die Springer-Presse stellt fest: „Tatsache ist: Mit der Löschaktion hat sich das BKA die alleinige Hoheit über die Auswertung der Daten gesichert“ und lässt einen Sicherheitsexperten zu Wort kommen, der folgendes erklärt: „Für die zielgerichtete Vernichtung von Beweismitteln durch eine Polizeibehörde in einem laufenden Ermittlungsverfahren, noch dazu auf Wunsch des BKA, kann es keine harmlose Erklärung geben. Der dubiose Vorgang riecht nach Beweisunterdrückung durch das BKA.“ Die Zeitung schreibt weiter: „Doch welches Geheimnis bergen die Handy-Daten? Polizeiexperten halten es für eine mögliche Erklärung, dass das BKA Informanten im Umfeld der Neonazi-Bande schützen will“, und möchte wissen: „Führen die Spuren der auf den Handys gespeicherten Telefonnummern, Text- und Bildnachrichten direkt ins BKA?“

Vor diesem Hintergrund erhält die Frage, ob es sich bei den „Neonazimorden“ um eine systematische, von langer Hand geplante Lynchmordserie handelt oder ob dies lediglich eine Operation von „Einzeltätern“ bzw. einem sogenannten „Trio“ oder doch einer viel größeren und mächtigeren „Terrorgruppe“ war, ein großes Fragezeichen.

Trotz all der peinlichen Enthüllungen ist es sehr bedenklich, dass noch immer kein einziger Innen- und Justizminister oder gar Ministerpräsident aufgrund dieser „tiefen Sicherheitspanne“ zurückgetreten ist. Dagegen wurde aber seit Monaten sehr ausgiebig über eine ganz andere Rücktrittsforderung diskutiert. So ausgiebig, dass andere Themen kaum noch Beachtung in den Medien fanden.

Die Aufklärung der Nazimorde in Deutschland wurde kurz nach Aufdeckung dieses Skandals durch etwas anscheinend viel wichtigeres in den Hintergrund gerückt: Eine sogenannte Bundespräsidentenaffäre, bei der es um vergünstigte Kredite und Hotelübernachtungen ging, beschäftigte monatelang die Öffentlichkeit. Mit der Suche nach einem geeigneten Nachfolger, der Wahl eines neuen Bundespräsidenten etc. wird diese Diskussion weitere Monate fortgesetzt. Ganz klar: Das ist natürlich viel wichtiger als die mindestens zehn Morde von Rassisten, die über ein Jahrzehnt – scheinbar unbemerkt – durch Deutschland reisen konnten. Weshalb redet fast niemand mehr öffentlich und medienwirksam über die rechtsextremistische Terrorbande und deren Verbindungen zu V-Leuten der Nachrichtendienste? Sind die von vielen Politikern als „Staatsaffäre“ und „Geheimdienstpanne“ bezeichneten Morde und deren Hintergründe denn genug aufgeklärt?

Die Verdächtigungen, mit denen Christian Wulff von den Medien und den Akteuren, die diese Medien mit sensiblen Informationen versorg(t)en, stammen alle vor der Zeit von Wulff als Bundespräsident. Außerdem wählen wir als Bürger Politiker und keine Heiligen. Die Bundesversammlung tut dasselbe, wenn sie einen Bundespräsidenten wählt. Wulff stammt aus Osnabrück, einer Stadt, die multikulturell und multireligiös geprägt ist. In der „Friedensstadt“ herrscht ein vorbildliches Miteinander der Religionen und Ethnien. Die Arbeitsgemeinschaft der Religionen in Osnabrück (AROS) trifft regelmäßig zusammen. In ihr sind Mitglieder aller Religionsgemeinschaften und Konfessionen vertreten, die Osnabrück zu bieten hat. So auch die Bahai-Gemeinde, Ahmadiyya Muslim Gemeinschaft, orthodoxe Christen und andere Gruppierungen, die es außer den großen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – gibt. In der „Stadt des Westfälischen Friedens“ Osnabrück gewann Christian Wulff die Herzen der „ganz normalen“ Menschen dadurch, dass er immer ein offenes Ohr für sie besaß.

Auf Landesebene setze er ein Zeichen, als er die Übernahme von VW durch ausländische Investoren verhinderte und damit einer halben Million Menschen in Niedersachsen die Arbeitsplätze sicherte. Damit trat er finanzkräftigen „Heuschrecken“ auf die Füße. Die Reibungen mit diesen dubiosen Kreisen nahmen während der Finanzkrise weiter zu. Wulff kritisierte die unmoralischen Fehlverhalten der Banken und Multimillardäre.

Als Christian Wulff als Ministerpräsident von Niedersachsen die erste muslimische und türkische Ministerin in Deutschland in sein Kabinett berief, bewies er Weitblick und Fingerspitzengefühl. Er konnte schon – im Gegensatz zu Parteifreunden und anderen Politikern – recht früh die demografische Entwicklung des Landes deuten und dementsprechend handeln. In einem Land, in dem knapp 20 Prozent der Bevölkerung ausländische Wurzeln haben, in dem über drei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben und in dem fast fünf Millionen Muslime heimisch sind, war Christian Wulff der Erste, der auf die Idee kam, eine Muslimin zur Ministerin zu ernennen. Damit schrieb Wulff Geschichte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde Wulff in den Augen mancher konservativ-reaktionärer, monokulturell-nationalistischer Kreise zur Gefahr.

Auch an der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an den niedersächsischen Schulen sowie der Etablierung islamisch-pädagogischer Lehrstühle an staatlichen Universitäten war Christian Wulff mitbeteiligt. Der Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland hat diese Initiative von Wulff auf ganz Deutschland übertragen.

Nachdem er zum Bundespräsidenten gewählt wurde, setzte sich Wulff immer wieder für den interkulturellen und interreligiösen Dialog ein. Fast in jeder Rede, Neujahrsansprache und Grußmitteilung kamen diese Begrifflichkeiten nun vor. Wulff sprach von einer „Bunten Republik Deutschland“ und erinnerte auch die „ewig Gestrigen“ daran, dass sich Deutschland änderte.

Selbst in seiner kurzen Rücktrittsrede unterstrich er die Bedeutung der Integration und sprach von ihr als „Herzensanliegen“. Für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sei das Projekt Integration von großer Bedeutung: „Es war mir ein Herzensanliegen, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken. Alle sollen sich zugehörig fühlen, die hier bei uns in Deutschland leben, eine Ausbildung machen, studieren und arbeiten, ganz gleich, welche Wurzeln sie haben. Wir gestalten unsere Zukunft gemeinsam. Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Kraft am besten entfalten und einen guten Beitrag zur europäischen Einigung leisten kann, wenn die Integration auch nach innen gelingt“, sagte er.

Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollten oder konnten, Deutschland wurde schon seit Jahren und Jahrzehnten vielfältiger, verschiedener und bunter. Christian Wulff sah und sieht in jedem Menschen, der in Deutschland lebt, einen Staatsbürger. Ein bis zu dieser Zeit noch nie da gewesenes „Wir-Gefühl“ zog mit Wulff durch Deutschland. Durch diese neue Bewegung und Dynamik, durch diese moderne Denkweise haben Millionen Menschen ihre Liebe zu diesem Land wieder entdeckt. Die Identifikation mit Deutschland viel mit einem Bundespräsidenten Wulff einfacher als je zuvor.

Doch für manche Kreise ging das Bekenntnis des Bundespräsidenten am Tag der Deutschen Einheit, dass „auch der Islam ein Teil von Deutschland“ ist, zu weit. Kein Politiker, bis auf den früheren Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (2009), hatte so etwas bis dahin in den Mund genommen. Ähnlich wie in den letzten Wochen wurde Wulff für diese wahren Worte wochenlang von den Medien und bestimmten Politkern – auch aus der eigenen Partei – heftig angegriffen.

Auf der anderen Seite erfuhr die „katholische Biografie“ Wulffs einen „Knick“. Für die Scheidung von Christiane Wulff und die Eheschließung mit Bettina Wulff wurde er von christlich-fundamentalistisch Kreisen heftig angegangen. Denn nach Kirchenrecht bleibt seine erste Ehe weiterhin bestehen und Wulff ist vom Sakrament der Eucharistie ausgeschlossen. Die Anfeindungen und Beleidigungen kann man in einschlägigen Internetforen nachlesen.

Der ehemalige Bundespräsident kritisierte außerdem die versagenden Sicherheitsbehörden und Verantwortlichen im Kampf gegen den rechtsextremistischen und antitürkischen Terrorismus und bat die Hinterbliebenen um Verzeihung. Er empfing die Familien sowie Angehörigen der Opfer, von denen einige von fast allen Medien und Teilen der Behörden zuvor verdächtigt wurden. Christian Wulff vergoss im Gegensatz zu anderen Politikern und Würdenträgern ehrliche Tränen anstatt Krokodilstränen. Das haben Millionen Menschen gespürt und gefühlt. Diese Anteilnahme hat man bei Landesministern oder Ministerpräsidenten vergeblich gesucht. Auch in seiner Weihnachtsansprache ging Wulff auf die Neonazi-Verbrechen ein, widmete der Thematik den größten Teil seiner Rede und forderte „lückenlose Aufklärung“. Diese Aufklärung verläuft aber auffällig schleppend. Zudem lässt die Transparenz zu wünschen übrig. Übrigens: dieselbe fehlende Transparenz, mit der Wulff zum Rücktritt gezwungen wurde.

Yasin Bas

ybas@gmx.de

Publiziert in der Ayasofya 39, 2012

 

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