Vorurteile – wie entstehen sie und wo rühren sie her?

Vorurteile – wie entstehen sie und wo rühren sie her?

In der Sozialpsychologie gibt es den Bereich der sozialen Wahrnehmung. Hierbei stellt sich zunächst die Frage, ob und in wie fern die soziale Wahrnehmung des Menschen Lieferant der Wahrheit ist. Es geht also um die konkrete Frage, was der Mensch in seinem sozialen Umfeld wahrnimmt, wie er diese Wahrnehmung innerlich verarbeitet und welche Schlussfolgerungen er aus dem Ganzen zieht.

Die Wahrnehmung des Menschen ist selektiv (auswählend) und hängt von seinen augenblicklichen Bedürfnissen ab. Geht z.B. jemand, der Durst hat, in ein Geschäft, wird er zuerst die Getränke wahrnehmen, anstatt des Brots. Denn sein augenblickliches Bedürfnis ist sein Durst und nicht sein Hunger. Ebenso kann das, was der Mensch wahrnimmt, von seinem Erfahrungshindergrund und von seinem Beruf abhängen. Ein Maler oder Künstler wird zunächst den Pinsel oder die Farbe in dem Geschäftsfach sehen, anstatt die Schere oder den Locher. Zu berücksichtigen ist bei der sozialen Wahrnehmung auch, dass das Umfeld die Wahrnehmung eines Menschen fälschen und manipulieren kann. Die Eindrücke, die der Mensch von seiner Umwelt erfährt, sind nicht objektiv, sondern eine aktive Selektion, die von vielen Umständen wie z.B. der individuellen Bedürfnisse und der kulturellen Vorstellung abhängt. Dass es bei der generellen Wahrnehmung des Menschen zu Verzerrungen und (optischen) Täuschungen kommen kann, lässt sich am besten mit der berühmten Müller – Lyersche – Täuschung erklären. (Zwei gleichlange Strecken wirken durch zusätzliche Striche unterschiedlich lang. Oder zwei gleichgroße Figuren erscheinen durch Kontrast unterschiedlich groß. Obwohl es sich um die gleiche Länge und um die gleiche Größe handelt)

Wahrnehmung ist eine Grundfunktion der menschlichen Existenz. Nach Heil (Nawratil/ Rabaioli–Fischer, S.48) wird die Wahrnehmung folgendermaßen definiert: Wahrnehmen heißt, Informationen aus Umwelt- und Körperreizen gewinnen, die zu einem – meist unbewussten – Auffassen und Erkennen von Gegenständen und Vorgängen führen und sie in das Bild der Welt des Menschen einordnen. Soziale Wahrnehmung ist die Bezeichnung für die Eigenarten des Wahrnehmens sozialer Gegebenheiten, Mitmenschen oder Gruppen. Die Personenwahrnehmung ist ein Spezialgebiet der sozialen Wahrnehmung und ist die Art und Weise, wie sich Eindrücke, Gefühle und Meinungen über die Mitmenschen bilden.

Als weiteren Schritt bei der sozialen Wahrnehmung erfolgt die Verarbeitung des Wahrgenommenen. Die wahrgenommene Information (z.B. über eine Person, die man beurteilen soll) geht bei einer Art Schaltstelle im menschlichen Gehirn ein und wird so verarbeitet, dass man durch Erfassen, Erkennen und Identifizieren zu einem Urteil über die betreffende Person kommt. Diese Schaltstelle wird “kognitives Verarbeitungszentrum“ genannt. Kognitiv, also die Erkenntnis betreffend. Durch das Eingehen der verschiedenen Informationen, die möglicherweise auch widersprüchlich sein können, bildet sich zum Schluss ein bestimmter Gesamteindruck, wobei der erste Eindruck ein besonderes Gewicht hat. Über das Entstehen des Gesamteindruck, gibt es verschiedene Meinungen: Nach einer Meinung entsteht der Gesamteindruck durch Summieren der gesamten Informationen, die man von der Person hat. Nach einer anderen Ansicht ist er die Bildung eines Durchschnittes aller gesammelten Informationen. Die Gestaltungspsychologie geht bei der Entstehung des Gesamteindrucks einen Schritt weiter und weist auf die Bedeutung des Ganzen hin. Der Vertreter der Gestaltpsychologie Asch (Nawratil/Rabaioli–Fischer, S.49) vertritt die Ansicht, dass neben dem Summieren der Informationen und der Bildung des Durchschnittes, die Merkmale einer Person ein “komplexes Konfigurationsmuster“ darstellen. Komplex, also vielschichtig und zusammenhängend. Mit Konfiguration meint er die Anordnung und wechselseitige Beziehung verschiedener Einzelheiten in einem zusammenhängenden Sachverhalt.

Bei der Personenwahrnehmung sind die Vorinformationen ebenso gewichtig. Sie können das Urteil über eine Person im Vorfeld beeinflussen. Ein bekanntes Experiment von Kelley zeigt, dass Studenten mit der Vorinformation “warmherzig“ über einen Gastlektor, ihn als beliebt und humorvoll bewerten. Studenten mit der Vorinformation “kühl“ über denselben Gastlektor billigten ihm hingegen diese Eigenschaft zu. D.h. sie sind bei ihrer Beurteilung geprägt von der Vorinformation, die sie im Vorfeld über die Person erhalten haben, ohne diese Person zu kennen oder vorher gesehen zu haben.

Die Schlussfolgerung aus dem Ganzen ist, dass auch wenn man wenig Informationen über eine Person hat, man zu einer recht abgerundeten Meinung über ihn kommt und regelmäßig glaubt, ein Urteil über ihn bilden zu können. Das geschieht durch Folgerungsprozesse. In das Werturteil gehen nicht nur die Eindrücke des Wahrnehmungsobjektes ein, sondern auch soziale Werte und persönliche Bewertungstendenzen. Dazu gibt es drei Folgerungsprozesse:

1. Die zeitliche Ausdehnung (Erweiterung)

Von einem momentanen, kurzfristig wahrgenommenen Verhaltensmerkmal schließt man auf ein beständiges Verhaltensmerkmal. Sieht man einen Menschen weinen, schreibt man ihm die Eigenschaft “sensibel“ zu.

2. Der Analogieschluss

Von einem einzigen Merkmal schließt man generalisierend, verallgemeinert auf die Persönlichkeit bzw. auf ein wesentliches Persönlichkeitsmerkmal. Sieht man das unordentliche Zimmer einer Person, geht man davon aus, dass diese unordentlich ist.

3. Die Übertragung

Man ordnet einem Fremden aufgrund von Äußerlichkeiten die gleichen Persönlichkeitszüge zu wie einer bereits bekannten Person.

Neben den Schlussfolgerungen gibt es auch die Kategorisierung, also das Einordnen in eine Kategorie, eine Klasse, Gruppe oder Gattung. Jemand wird zunächst in eine bestimmte Kategorie zugeordnet, anschließend werden ihm alle Merkmale dieser Kategorie zugeschrieben. So entstehen Stereotypen, Diskriminierungen und Vorurteile. Letzteres wird folgendermaßen definiert: Vorurteil ist ein vorgefaßtes und meist negatives Urteil über Menschen oder Gruppen; es ist rigide (=starr), konstant, gefühlsmäßig unterbaut und nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmend. Es beruht auf fehlerhafte Verallgemeinerungen. Allport (1971) formuliert folgende Definition: Vorurteil ist eine ablehnende, feindselige Haltung gegen eine Person, die zu einer Gruppe gehört, einfach deswegen, weil sie zu dieser Gruppe gehört und deshalb dieselben zu beanstanden Eigenschaften haben soll, die man dieser Gruppe zuschreibt. Folglich ist der Begriff Vorurteil auf negative Bewertungen beschränkt. Es ist meist mit heftigen negativen Gefühlen gekoppelt.

Die Entstehung von Vorurteilen kann folgende Gründe haben: Die Ablehnung von Fremdem beruht auf der tief im Menschen verwurzelten Unsicherheit und Furcht gegenüber Unbekanntem und Fremdem. Sobald man mit einer Sache konfrontiert wird oder auch nur einer Person begegnet, die einem fremd ist und die man nicht versteht, sucht man den Grund und die Ursache in dem anderen, der einem unverständlich, abweichend und anormal erscheint.

Bei der Entstehung von Vorurteilen spielt das Sozialsystem ebenfalls eine entscheidende Rolle. Unterschiedliche Positionen im Sozialsystem und verschiedene Wertesysteme lassen Vorurteile entstehen und halten sie zudem noch aufrecht.

Ein weiterer Aspekt, der bei der Entstehung von Vorurteilen bzw. der Diskriminierung Bedeutung hat, ist die Frustration. Denn wenn der Status einer Person, also ihre Stellung in der Gesellschaft bedroht scheint, kann dies an die Toleranzgrenze für Frustration gehen. Man sucht nach Sündenböcken, um sich abzureagieren. Als Sündenböcke bieten sich dann meist schwache Gruppen oder Minderheiten an. Man schreibt seinem Opfer verwerfliche Eigenschaften zu und kann ihn somit skrupellos und ohne schlechtes Gewissen angreifen. Frustration kann also zu Aggression gegen Minderheiten führen, denen die Bedrohung des eigenen Status unterstellt wird.

Abschließend ist kurz auf die Diskriminierung einzugehen. Diskriminierung ist das Herabwürdigen oder Herabsetzen (eines Menschen). In diesem Zusammenhang ist sie die Umsetzung des durch Gedanken und Gefühle gekennzeichneten Vorurteils ins Handeln. Ein Beispiel dazu ist: Allgemeine Ausländerfeindlichkeit ist ein Vorurteil. Also ein Gedanke oder ein Gefühl. Die Weigerung, einem ausländischen Ehepaar eine Wohnung zu vermieten, ist Diskriminierung. Also die Umsetzung des Vorherigen.

Vorurteile und ihre Entstehung sind somit menschliche Phänomene. Vorurteile hat jeder Mensch. Meist schon bedingt durch den ersten Eindruck entsteht ein Vorurteil als eine Art innerer Verarbeitungsprozess im Menschen. Solange das Vorurteil nur vorläufig und behebbar ist und durch Umsetzung nicht zu Diskriminierung führt, ist sie weniger gefährlich und kontrollierbar. Deshalb sollte man versuchen, eine Situation oder Person zunächst zu beurteilen, anstatt zuvor zu vorurteilen und dadurch Menschen eventuell zu Unrecht zu verurteilen.

Selma Öztürk

oeztuerk.s@gmx.de

Literatur:

  • Allport G. W., Die Natur des Vorurteils, 1971
  • Nawratil G. & Rabaioli–Fischer B. Sozialpsychologie, 2004

Publiziert in: Ayasofya, Nr.32, 2010

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