Miteinander sprechen
In der Folge der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhundertes bemühten sich die verschiedenen Kirchen in Europa um das Gespräch mit den von Totalitarismen, Nationalsozialismus und Bolschewismus, Diskriminierten. Dort, wo die Tagungen und Begegnungen ein besonderes akademisches bzw. denkerisches Niveau erreichten, sprach man vom „Dialog“. Das Wort wurde rasch populär, und so nannte man alle Konferenzen und Begegnungen zwischen Christen, Juden und Muslimen, Buddhisten u.a. Dialog. Die Gespräche des Islamgelehrten Said Nursis wurden nachträglich zu Dialogen gemacht. Sein persönliches Bemühen um den Anders-Gläubigen und sein Ringen um die Zukunft seiner islamischen Gesellschaft, der langsam heranreifenden Türkei, wurde intellektualisiert, während die Gläubigen in den Dörfern und kleineren Städten den Worten Said Nursis seine Briefe lasen und den Empfehlungen folgten.
Man sprach miteinander über den neuen Lehrer, die Ernte, das Zuckerfest am Ende des Ramadans, das die örtlichen christlichen Nachbarn ebenso feierten wie die Muslime. Man sprach mit den Christen, ohne sich zu fragen, ob die Christen im Dorf bzw. im Stadtviertel die gleichen waren im fernen England. Die Schüler Nursis, die zur Arbeit nach Deutschland gingen, lernten mit Verblüffung, dass es in der Bundesrepublik zwei Großkirchen und etliche kleinere christliche Kirchen gibt, mit denen man anfangs gänzlich unterschiedliche Fragen diskutierte. So stellten manche der christlichen Besucher der medresen Themen zur Diskussion, die die Schüler Said Nursis überhaupt nicht kannten, wie etwa die christliche Problematik der Erbsünde, der Person Isa bin Miriams oder theologische Repräsentation der Muslime. Das miteinander Sprechen wurde für manchen in der Nurculuk Bewegung zum unbewussten Lernen.
Zeitlich parallel trafen Muslime, Christen, Liberale u.a. bei den verschiedensten Gelegenheiten aufeinander z.B. weil sie sich in einem Betrieb einer Gewerkschaft anschlossen oder im Sportverein einen Ratsherren als Mannschaftskameraden trafen. Während alle anderen nach dem Training ihr Bier tranken und über alles Mögliche redeten, beteiligten sich auch die Muslime an den Diskussionen mit einem Glas Cola. So redete man miteinander, wobei das, was man ein politisches Gespräch nennen könnte, kaum vorkam. Die Nurculuk Bewegung in Deutschland lebte die islamische Orthopraxie, d.h. eine islamische Lebensweise, was man in Deutsch Frömmigkeit nennt. Nur darüber sprach man mit seinen deutschen Bekannten nicht. Es interessierte in einer säkularen Gesellschaft nur das, was man unter Folklore verstand. Selbstverständlich sprach man deutsch mit den Deutschen und türkisch in der Gemeinschaft, ohne sich bewusst zu werden, dass manches Mal das Türkische nicht dem Deutschen entsprach und umgekehrt. Miteinander zusprechen bedarf des Bewusstseins dessen, was übersetzbar ist. Dazu gehört der Respekt vor dem Unübersetzbaren des Glaubens des Anderen. Daher will das Miteinander gelernt sein, was nur über die Erfahrung in der Zeit geht. Hierzu gehören die durch Leiden gewonnenen Erfahrungen Said Nursis.
Wolf D. Ahmed Aries
Publiziert in Ayasofya Nr. 63